Das Schild der Kneipe türmte einschüchternd über Benjamin, doch tiefer konnte er jetzt nicht mehr sinken, dachte er sich. Noch zwei Züge von der schlecht gedrehten Zigarette, dann würde er reingehen. Er war schon immer sehr schlecht darin Zigaretten zu drehen. Immer löste sich der Filter, was dazu führte, dass der Rauch durch das Blättchen unangenehm in seine Nase zog und seine Augen zum tränen brachte. Aber es war die günstigste Option oder zumindest hatte das sein Vater immer gesagt.
Seit zwölf Jahren hatte er ihn nicht mehr gesehen. Frank. Wie ein Klischee eines abwesenden Vaters war er von einen Tag auf den anderen einfach verschwunden. Wenn Benjamin daran zurückdachte, wunderte er sich, wie niemand den tiefen Wunsch seines Vaters sehen konnte. Über all diese Jahre, hatte niemand bemerkt oder bemerken wollen, dass Frank einfach nur verschwinden wollte. Erst fing es mit harmlosen Bemerkungen an. Wenn sein Vater eine schwierige Aufgabe hatte, die er nicht lösen konnte, sagte er Sachen wie „da will man doch einfach ins Auto steigen und nicht mehr bremsen“. Deutlicher geht es im Nachhinein eigentlich gar nicht. Noch deutlicher wurde es erst später, als die Depression stärker wurde und sein Vater wortkarger und verschlossener. Dann waren es eher die Sachen, die er nicht sagte, die signalisierten, dass Frank nicht mehr dort sein wollte, wo er war.
An einem Samstagmorgen, Benjamin war 14 Jahre alt, wachte er auf und spürte, dass irgendetwas falsch war. Die Vögel vor seinem Fenster sangen leiser, die Autos, die durch den Wendehammer fuhren, fuhren langsamer. Als er kurz darauf die Treppe runterging, sah er seine Mutter in der Küche rumtüdeln. Aufgeregt und pfeifend räumte sie den Geschirrspüler aus, während sie gleichzeitig den Frühstückstisch deckte. Papa sei nur kurz zu Penny gefahren, um noch Eier zu holen, sagte sie und schien anscheinend nichts zu ahnen. Nach einer Stunde frühstückten Benjamin und seine Mutter dann allein, wo sie für einen kurzen Moment traurig und gedankenverloren in ihrem Kaffee rührte. Jahrelang fragte er sich, ob sie wirklich nichts geahnt hatte oder es bloß nicht wahrhaben wollte. Die Gewissheit kam an Tag 3, als er auch nicht auf der Arbeit erschien und Franks Chef bei Benjamins Mutter anrief, um sich nach ihm zu erkundigen.
Nichts hatte er mitgenommen. Keine Kleidung, keine Wertgegenstände oder persönlichen Erinnerungen, bloß sein Portemonnaie. Einen Brief hinterließ er nicht. Benjamin wurde immer noch wütend, wenn er daran dachte. All seine blöden Sachen hatte er dagelassen, all diese Sachen, die er und seine Mutter nun jeden Tag sehen mussten, in der Gewissheit, dass sein Vater einfach gegangen war und nicht mehr wiederkam. Gib uns doch eine Erklärung, irgendetwas, an dass man sich klammern kann, dachte er sich.
In den folgenden Jahren gewöhnte sich Benjamin daran. Daran, dass sein Vater weg war und nichts mit ihm zu tun haben wollte, sich nicht einmal meldete. Es dauerte zwar ein bisschen, aber irgendwann konnte er auch mit seinen Freunden darüber sprechen. Zunächst nur wenn er getrunken hatte und Witze darüber machte, dass er keinen Vater hatte und merkte, dass die anderen darüber lachten. Viel zu spät bemerkte er, dass sie das nur taten, weil sie nicht wussten, was sie sonst machen sollen, nicht, weil das sonderlich witzig ist. Darauf folgte die Phase, in der er darüber scherzte, ohne, dass er getrunken hatte. Danach sprach er dann normal darüber, aber nicht zu oft. Er wollte sich nicht davon definieren lassen. Nicht seinen Charakter übernehmen lassen von einer Entscheidung seines Vaters, für die er nichts konnte. Soweit er wusste, zumindest. Also bemühte sich Benjamin seine eigene Charakterentwicklung anzutreiben. Er machte seine Schule zu Ende, arbeitete danach eine Zeit lang in einem Café, fing an BWL zu studieren, brach das Studium ab, arbeitete wieder im Café und begann eine Ausbildung im Marketingbereich. Und dabei dachte er nicht an seinen Vater – bis er nachts wach lag. Dann musste er an die wenigen Erinnerungen denken, die er an Frank hatte. Er nannte ihn immer nur Frank. Er dachte an die gemeinsamen Kinobesuche, die sie nur zu zweit machten, ohne Mama, weil sie immer nur „so blöde Schnulzen“ gucken wollte, wie er immer sagte. Dann gingen sie in das kleine Kino, das einen Ort weiter war und schauten sich den neusten Blockbuster an. Die Fahrt dorthin war für Benjamin immer das Highlight. Frank heizte ihm in den Tagen davor schon ein, fragte ihn, ob er schon den Trailer gesehen hätte oder erzählte ihm Kleinigkeiten über Schauspieler, die Benjamin unbekannt waren, die nur Väter kennen würden. Wie oft er sich die Geschichte über Sylvester Stallone anhören musste, dass er seinen Hund aus Geldnot verkaufen musste, ihn nach dem Erfolg vom ersten Rocky aber direkt zurückholte. Auf der Hinfahrt im Auto hörten sie dann den Soundtrack Song zum Film, falls es einen gab und unterhielten sich über jeden Unsinn, der ihnen einfiel. Im Kino holte Frank den beiden jeweils eine Tüte Popcorn und Benjamin durfte sogar eine mittlere Cola trinken, auch wenn seine Mutter nur eine kleine erlaubt hatte. Schöne Erinnerungen wie diese machten ihn, abends im Bett liegend, noch wütender. In der Zeit, die er da gewesen war, war Frank ein guter Vater. Benjamin fand es unfair, dass er das nicht weiterhaben konnte, ohne, dass er selbst darüber entscheiden durfte. Es tat weh, dass Frank diese Entscheidung ohne ihn und seine Mutter traf.
Jetzt stand er vor dieser Kneipe, im Nordosten Englands, direkt am Fluss Tyne. Es nieselte leicht und Benjamin nahm den dritten Zug von der Zigarette. Durch die offenstehende Tür konnte er mehrere Männer an der Theke sitzen sehen und fragte sich, ob einer davon Frank war. Oder Fränk, wie er hier vermutlich genannt werden würde. Es war ein langweiliger Abend gewesen, an dem Benjamin entschied, sich nach Jahren mal wieder bei Facebook einzuloggen. Das Erste, was er dort sah, war der Vorschlag. Personen, die du vielleicht kennen könntest: Fränk. Er konnte nicht anders als auf Franks Profil zu schauen und dort standen sie, all die Informationen, die er sich von ihm gewünscht hatte zu wissen. Wohnort, Job, Beziehungsstatus. Auf den Fotos sah Frank sehr glücklich aus, posierte lachend mit Freunden, fuhr mit Motorroller durch die englische Landschaft oder ging in den Hochseilgarten. Komischerweise machte das erst nichts mit Benjamin. Für ihn war diese Person fremd, es hätte genauso gut nicht sein Vater sein können. Fränk. Dann fragte er sich aber doch, ob er wohl manchmal noch an ihn und seine Mutter dachte. Oder, ob er sich wie ein blödes Klischee vorkam, weil er wie einem Udo Jürgens Song einfach zur Tür rausgegangen war und nicht mehr umdrehte.
Einige Wochen später machte sich die Idee breit, warum er nicht einfach in den Flieger stieg und ihn besuchte. Seine Freunde bestärkten ihn sogar in der Idee und jetzt stand er vor der Kneipe. Der Regen färbte seine alte Levi‘s Jeans in einen dunkleren Blauton, er drückte die Zigarette aus und steckte die Hände in die Jackentaschen, während Tränen sich in seinen Augen sammelten. Er drehte um und ging zurück in Richtung seines Hotels. „Leave Fast or Stay Forever“ leuchtet das Schild über der Kneipe weiter vor sich hin.