Das Internet ist ein prägender Ort - schon immer
Schwarzer Humor, Anti-SJW, Anti-Woke: Konservative und rassistische Inhalte auf Social Media sind kein neues Problem.
Ich bin Teil der ersten Generation, die maßgeblich durch das Aufkommen von Social Media geprägt wurde. Bücher wie „Das Endy von Eddy“ von Édouard Louis oder „Die Scham“ von Annie Ernaux sind Memoiren, die anhand sozialer Herkunft und Erziehung die Probleme ganzer Regionen und sozialer Kasten auf persönlicher Ebene beschreiben, sie dadurch greifbar und verständlich machen. Das Internet hat meiner Meinung nach eine ähnliche Fähigkeit zu prägen wie diese sozialen Faktoren1. So viele Personen, Trends und digitale Orte haben mich während meiner Jugend geprägt, ich möchte dafür plädieren, das Internet als wichtigen Raum für Sozialisation zu sehen und diesen Ernst zu nehmen.
Es ist kein Geheimnis, dass Influencer*innen und Creator*innen bspw. den Sprachgebrauch ihrer Zuschauenden beeinflussen (das Jugendwort des Jahres sollte dafür Beweis genug sein). Dass sich dies auch auf andere charakterbildende Aspekte überträgt, ist daher nicht weit hergeholt. Heutzutage haben wir es online unter anderem mit Horden an jungen Männern zu tun, die konservativ sind, Feminismus hassen und all ihr Geld in Krypto investieren. Das kommt nicht von irgendwo.
Die letzten fünf bis zehn Jahre habe ich mich in einer angenehmen Bubble im Internet eingenistet. Progressive, junge Leute, die versuchen auf die Bedürfnisse anderer Personen zu achten, sich (zumindest versuchen) mit ihren eigenen Privilegien und Vorurteilen auseinanderzusetzen und sich gegenseitig wertschätzen. Mittlerweile hat man das Gefühl dieses Bubbles verkleinern sich oder platzen, konservative Themen und Meinungen nehmen wieder mehr Platz ein. Die Stimmung im Internet wird rauer. Doch das ist kein neuer Trend bzw. diese Progressivität, in der auch ich mich lange eingerichtet habe, bestand nicht immer. Allein das Internet vor 10-15 Jahren war ein komplett anderer Ort.
Ein Beispiel: Als ich in der Pubertät war, war Facebook noch ein großes Ding. Mein gesamter Freundeskreis verbrachte nach (eigentlich auch während) der Schule den Tag auf Facebook. Man likete lustige Seiten, schrieb sich gegenseitig auf die Pinnwand, postete einen Status darüber, was man heute mit wem und wo gemacht hatte. An der rechten Seite des Bildschirms hatte Facebook damals noch einen Zeitstrahl, der in Echtzeit anzeigte, was deine Freund*innen gerade geliked, kommentiert oder geteilt haben. Eine Seite, die damals all the rage war: eine Seite, die mit rassistischen Stereotypen spielte und Memes postete, die sie als „schwarzen Humor“ bezeichnete. Titel war so etwas wie “Mein Humor ist so schwarz, der …” - ich führe es jetzt nicht aus, aber ihr könnt es euch denken. Glücklicherweise fallen mir keine konkreten Bilder mehr ein, aber heutzutage würde man sagen: nicht gut gealtert. Eine Facebook Seite mit Tausenden Likes und Follower*innen, die täglich ganz offen rassistische, sexistische oder ableistische (die Liste könnte noch weitergehen) Inhalte teilte. Auch ich, ungefähr 14 Jahre alt, folgte der Seite, fand sie offenbar lustig und dachte mir, dass es ja alles nur Spaß und nicht ernst gemeint sei.
Social Media hatte erstmals einen neuen, digitalen Sozialraum geschaffen, an dem sich eine riesige Gruppe an Jugendlichen treffen konnte, um ihren edgy „Humor“ auszuleben und dadurch salonfähig zu machen. Ist man dem täglich ausgesetzt, ist es nur logisch, dass sich das auf die eigene Charakterbildung auswirken kann. Ich hatte das große Glück durch Leute aus meinem Umfeld und spätestens durch mein Soziologie Studium von diesem Weg abgebracht zu werden, aber es gibt viele Orte und Möglichkeiten, wie das Internet einen in gewisse Pipelines schieben kann. Die Erfahrung, dass man als Teenager in seiner Freundesgruppe abends irgendwo rumhängt und seine Grenzen austestet, kennt vermutlich jeder. Man möge sich jetzt vorstellen, dass sich dieser Ort ins Internet verlagert, die Gruppe sich um zehntausende Leute vergrößert und ganz öffentlich und rund um die Uhr einsehbar ist. Mir schaudert es.
Édouard Louis beschreibt in „Das Ende von Eddy“ sein Entkommen aus der nordfranzösischen Provinz, die geprägt war von Armut, Gewalt und Homophobie. Er zeigt, wie schwer es ist aus dem Strudel zu entkommen, sich selbst gegen die Art und Weise zu stellen, wie dort gelebt wird und welchen Kraftakt das mit sich bringt. Und dass viele es nicht schaffen. Dass einem Großteil der Leute soziale Mobilität verwehrt bleibt und sie dazu verdammt sind, so zu leben wie ihre Eltern vor ihnen und sie unbemerkt alle ihre Fehler reproduzieren. Das Internet kann auch so ein Ort sein! Wird man mitgerissen in ein Rabbithole, das auf den ersten Blick ein soziales Bedürfnis stillt, einem ein vermeintliches Zuhause gibt, das einem sonst fehlt, kann es schwer sein dort wieder rauszukommen. Verschwindet man also bspw. in Incelkreisen oder „Anti-Woke“-Bewegungen, benötigt es einen riesigen Kraftakt um von alleine wieder rauszufinden.
Wenn ich 2015 aus dem Facebook Tab rüber zu YouTube wechsele, dann werde ich begrüßt von der ersten Generation an Creator*innen und Influencer*innen, die ihren Lebensunterhalt damit verdienen. Eigentlich brauchen die einen ganz eigenen Text, so viele gibt es, die ich hier unmöglich alle aufzählen kann. Wissenschaftler*innen sollten untersuchen, welche Auswirkungen MontanaBlack, Elotrix oder Mois auf ihre Zuschauerschaft hatten (und haben).
Ich habe mich damals viel im englischsprachigen Bereich von YouTube aufgehalten. Was dort teilweise passiert ist, war das Gegenteil von woke. Die sogenannte commentator-Szene wuchs zu der Zeit massiv. Creator*innen waren effektiv das, was man als Meinungsblogger*innen bezeichnen würde, machten Videos über Streits und Diskurse, die innerhalb der YouTube-Szene abgingen. Creator wie leafyishere posteten täglich Videos, in denen sie sich über andere, kleinere Leute lustig machten und sie homophob, ableistisch oder Ähnlich beschimpften. iDubbbz, einer der größten Creator der Szene, mit seiner „Content Cop“-Reihe, in der er problematische und protzige YouTuber bloßstellte, bezeichnete seine Zuschauerschaft „liebevoll“ mit einem Begriff, der sich aus einer rassistischer und einer homophoben Beleidigung zusammensetzt. Diese Szene wurde mit der Zeit vermehrt das, was man vermutlich „alt-right“ nennen würde. Mit Akteuren wie Sargon of Akkad oder anderen Personen, die sich als „sceptics“ bezeichneten und auch dem Aufkommen von Medienfiguren wie Jordan Peterson. Die daraus entstandene Bewegung gegen sogenannte „Social Justice Warrior“, also Personen, die man heute als „woke“ bezeichnen würde, stilisiert als hysterische Frauen mit bunten Haaren, die zu emotional sind, schwappte später auch nach Deutschland aber und festigte damit dieses Sentiment gegen progressive Ideen. Hierzulande zeigte sich das unter anderem durch Creator wie KuchenTV, aber auch vermeintlich progressive Personen fielen zeitweise mit der Übernahme dieses Narratives auf.
Das Aufkommen “konservativer” Werte im Internet mit Figuren wie Andrew Tate oder Hoss&Hopf ist dabei eine Reaktion auf die vermeintliche Liberalisierung des Internets und der Gesellschaft in den Jahren zuvor. Wie eine Sinuskurve scheint die Stimmung immer wieder zu wechseln. Das Vermitteln eines “klassischen” Männlichkeitsbildes eine Reaktion auf die vermeintliche Verweichlichung der Männer. Wenn man sich als junger Mann lost fühlt, spricht einen sowas an (mir ist es auch fast passiert, als ich 19 und verloren war). Da braucht es Alternativangebote, die Personen auffangen und nicht in die Fänge des traditionellen Männlichkeitsbildes fallen lassen, das meiner Meinung nach sowieso nichts weiter ist als Marketing, um Unterdrückung (auch die eigene!) als heroisch und wichtig zu verkaufen.
Mein Punkt ist: Wenn wir uns fragen, warum junge Männer immer rechter, konservativer, etc. werden, sollten wir uns nicht nur (auch! aber nicht nur) fragen, aus welchem sozialen Umfeld sie im echten Leben kommen. Wir sollten uns anschauen, in welches digitale Ökosystem junge Männer in der heutigen Zeit geschmissen und von Opportunisten dort geformt werden. Überlegen, wie man Empathie vermittelt, auf eine Weise, die junge Männer anspricht.
Wir sollten als Gesellschaft an den Punkt kommen, an dem wir uns der Realität stellen, dass Social Media bzw. ihre Akteur*innen Generationen prägen. Die letzten zehn Jahre haben das mehr als bewiesen. Eine Auseinandersetzung damit, wer und wie die jungen Leute im Internet prägt, ist meiner Meinung nach unausweichlich. Genau wie die Herkunft, Armut oder das soziale, analoge Umfeld Menschen prägt, kann auch das soziale, digitale Umfeld einen formen und beeinflussen. Wenn wir das nicht akzeptieren, bleiben marginalisierte Gruppen wie immer die Leidtragenden.
Mir ist bewusst, dass diese Dinge nicht 1:1 übertragbar sind. Vermutlich beeinflussen sie sich mehr gegenseitig. Soziale Faktoren wie Herkunft und Status sind von den Betroffenen durch Geburt gegeben und nicht beeinflussbar, ins Internet gehen per se schon. Die sozialen Faktoren beeinflussen vermutlich eher in welchen Orten man sich im Internet rumtreibt.