Weg mit der Scham!
Über den Wunsch sich weniger zu schämen & den kapitalistischen Albtraum der Scham.
Stundenlang nahm ich auf, vertonte und bearbeitete Videos. Ich überlegte mir, wie ich es nennen sollte, gestaltete Thumbnails und lud sie hoch. Und dann: erzählte ich niemandem davon. Mein heimlicher Traum als Teenager war immer YouTube Videos zu machen, aber die Angst vor sozialer Ächtung hielt mich davon ab. Immer wieder komme ich in meinem Alltag in Situationen, die ich lange als Schüchternheit oder Anxiety interpretiert habe, die aber oft auch etwas anderes sind: übertriebene Scham.
Ich schäme mich unfassbar viel. Es ist etwas, an dem ich versuche zu arbeiten, aber leicht ist es nicht.
Scham ist, per se, erstmal ein soziales Phänomen. Es ist ein Regulator von Gemeinschaften und soziologisch keineswegs so negativ gesehen, wie es allgemein konnotiert ist. Jede Gemeinschaft hat ihre eigenen (sozialen) Regeln, an die sich die Mitglieder*innen halten sollen. Die Scham vor dem Bruch dieser Regeln, soll davor schützen aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden.1 So halten wir uns eher an die gesetzten, sozialen Institutionen. Das Ganze kann aber auch ausarten und zu “toxischer Scham” werden, die einschränkt und krank macht.
Mein Spitzname in der Grundschule war “Tomate”, weil ich schnell und doll rot werde. Das begleitet mich auch heute noch, was zu einem Teufelskreis wird, in dem ich aus Scham rot werde und dadurch signalisiere, dass ich mich schäme, was dann alle merken, wodurch ich noch mehr rot werde. Spitze. Ich weiß noch, dass es damals meine größte Angst war, dass jemand rausfindet, dass ich heimlich Videos bei YouTube hochlade. Ich hatte Angst gesehen zu werden, obwohl es eine der Sachen war, die mir am meisten Spaß gemacht hat. Es war jedoch geächtet sich im Internet zu zeigen und dabei Ambitionen zu haben, vielleicht Sachen auszuprobieren und auch zu scheitern. Und ich wollte nicht aus meiner sozialen Gruppe ausgeschlossen werden, also habe ich es irgendwann gelassen.
Erst mit Mitte 20 habe ich mich dann getraut, mich kreativ so auszuleben, wie ich wollte, zunächst nur mit einem Freund, mittlerweile auch alleine. Aber die Scham ist trotzdem noch da, wenn mich Leute im echten Leben darauf ansprechen, dass sie TikToks von mir gesehen haben. Ich werde rot und schäme mich, obwohl die Leute meistens nur sagen, dass sie cool finden, was ich mache. Es besteht gar keine Gefahr mehr aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden, aber dieses angelernte Verhalten aus meiner Teenagerzeit kann ich nicht so leicht ablegen.
“Shame gets a bad rap these days. I think it’s quite a useful emotion, a corrective on certain kinds of behavior.” - Zadie Smith
Für die Zukunft nehme ich mir vor: Ich möchte mich weniger schämen. Klar, wenn es angebracht ist und ich mich daneben benommen, einen sozialen Fehltritt, begangen habe, dann schäme ich mich gerne. Ich bin der Erste, der sich schämt, wenn er muss. Ich bin Weltklasse im Schämen. Aber ich möchte mich nicht mehr lähmen lassen, von falscher Scham, die ich mir von anderen Leuten einreden lasse, die am Ende des Tages möglicherweise bloß selber unsicher sind.
Ich erinnere mich an die New York Times Rezension zu dem Buch “The Shame Machine”2, die ein paar der modernen Aspekte beleuchtet, in denen Scham von der Gesellschaft genutzt und anschließend kapitalistisch ausgebeutet wird. Man wird geshamed, wenn man “zu dick” ist und dann wird einem das Geld aus der Tasche gezogen für Produkte, Tipps und Tricks, wie man Gewicht verlieren kann, weil sonst ist man auf jeden Fall selbst Schuld. Das Buch kommt zu dem Schluss, dass eine Menge Geld mit niedrigem Selbstwertgefühl zu machen ist. Auch deswegen möchte ich mich nicht mehr steuern lassen von dem Gefühl der Scham, nicht, wenn es so ein kalkuliertes System zur monetären Bereicherung ist. There is also a Conversation to be had über das Thema Scham im Kapitalismus generell und wie der Gedanke der meritokratischen Gesellschaft Armut zu etwas macht, an dem man selbst Schuld ist und wofür man sich schämen sollte. Wie mit vielen anderen Sachen hat der Kapitalismus Scham von einem sozialen Ordnungswerkzeug zu einem Werkzeug der monetären Bereicherung und Ausbeutung Schwächerer gemacht. Scham kann ein gutes Mittel sein, um Druck auch auf Personen in Machtpositionen auszuüben, nicht bloß zum nach unten treten (siehe auch: Kriminalisierung von Drogenkranken). Die Autorin des Buches nennt die #MeToo-Bewegung als positives Beispiel der Anwendung von Scham an Personen in Machtpositionen. Eine Bewegung, die nach oben tritt.
Abschließend bleibt festzustellen: mein jüngeres Ich kann stolz auf mich sein, weil ich mittlerweile YouTube Videos mache. Ich weiß, dass ich es bestimmt nicht immer schaffen werde, mich von Scham zu befreien, aber ein gewisses Maß an Awareness, dass Scham auch ausgenutzt werden kann, hilft mir hoffentlich dabei mich zu verbessern.
https://www.geo.de/geolino/mensch/15029-rtkl-psychologie-warum-peinlichkeit-gut-ist, 16.06.2024
https://www.nytimes.com/2022/03/18/books/shame-machine-cathy-oneil.html
Du sprichst mir einfach aus der Seele
beschäftige mich gerade auch viel mit dem Thema Scham, vielleicht hast du es schon gesehen aber Arte hat vor kurzem eine Doku über Scham hochgeladen, die ist auch super interessant :)